
Ohne Titel
Ohne Titel
Schaudepot, 2. OG, Hector-Bau
Georges Noël gehört zu den bedeutendsten Vertretern des skripturalen Informel, das sich in den 1950er und 1960er Jahren in Europa und den USA entwickelte. Dreißigjährig zog Noël nach Paris, wo er sich fortan vollständig der abstrakten Malerei widmete. Dort traf er auf die erste Generation informeller Maler, die in existenzialistischer Manier die totale Freiheit der Subjektivität postulierten. Gemäß nihilistischer Auffassung kann allein das Sein dem Nichts entgegenstellt werden, weswegen es dieses auszudrücken gilt. Anders als der Großteil der Informellen, die in Öl arbeiteten, orientierte sich Noël an Jean Dubuffet und verwendete selbstgefärbten Sand, Leim und Marmormehl, um die gewünschte materielle Tiefe zu erreichen.
Das gesteigerte Bildkörpervolumen und die verdichteten Materialien lieferten ihm überraschende Momente. Der Widerstand des Materials erlaubte ihm, sich daran abzuarbeiten, steigerte die Energie, die Intensität und Konzentration seiner Arbeit und half ihm dabei, das Bewusstsein auszuschalten. Mit großer Geschwindigkeit krakelte und ritzte, zerfurchte und durchwühlte er die Bildoberfläche. Die figürliche Bildwelt interessierte ihn nicht, er suchte den Ausdruck seiner Subjektivität in der spontanen Geste abstrakter Kalligraphie zu »verschriftlichen«.
Noëls überlagernde Schriftbilder zeigen eine Verwandtschaft mit antiken, mehrfach beschrifteten Pergamenten (Palimpseste), wobei ihre Materialität eher an das Graffito urzeitlicher Höhlenmalerei erinnert. Im Gegensatz zu diesen historischen Schriftstücken nutzt Noël kein existentes Zeichensystem und vermittelt keinen objektiven Sinn. Vielmehr stellen die Arbeiten eine spontane Transkription des sowohl psychischen als auch geistigen Seins dar. Die Geste wird zum Übergang zwischen Sein und Nichtsein, zwischen Sichtbarem und Unsichtbaren, die Begriffe verschmelzen in der Bewegung – eine Methodik, die an die surrealistische Écriture automatique erinnert.
Noël sollte dieser Bildsprache lebenslang treu bleiben, mit den Jahren tritt jedoch eine stetig deutlicher werdende Strukturierung durch einteilende Linien und Flächen hervor. Die Schriftzeichen entwickeln sich zu Geflechten und Bändern, nehmen schließlich geometrische Formen an und wachsen zu Reliefs heran.